Unterhalt für volljährige Kinder: Aktuelle Rechtsprechung und praktische Auswirkungen
Die Unterhaltspflicht der Eltern endet nicht automatisch mit der Volljährigkeit des Kindes. Besonders während einer Ausbildung oder eines Studiums bleibt der Unterhaltsanspruch bestehen. In den letzten Jahren haben mehrere wichtige Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) und der Oberlandesgerichte die Rahmenbedingungen für den Unterhalt volljähriger Kinder präzisiert. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die aktuelle Rechtslage und deren praktische Auswirkungen.
Grundlagen des Unterhaltsanspruchs volljähriger Kinder
Der Unterhaltsanspruch volljähriger Kinder basiert auf § 1601 ff. BGB und unterscheidet sich in wesentlichen Punkten vom Unterhalt für minderjährige Kinder:
Wesentliche Unterschiede zum Kindesunterhalt:
- Direkter Anspruch: Das volljährige Kind muss seinen Unterhalt selbst geltend machen
- Höherer Selbstbehalt der Eltern: 1.370 € statt 1.120 € (Stand 2024)
- Strengere Mitwirkungspflichten des Unterhaltsberechtigten
- Beide Elternteile sind barunterhaltspflichtig (anteilig nach Einkommenshöhe)
- Anrechnung eigener Einkünfte des Kindes
Aktuelle BGH-Rechtsprechung zu Mitwirkungspflichten
Besonders praxisrelevant sind die Entscheidungen des BGH zu den Mitwirkungspflichten volljähriger Kinder:
BGH-Beschluss vom 14.10.2020 (XII ZB 499/19):
Der BGH hat die Auskunftspflichten volljähriger Kinder deutlich konkretisiert:
- Regelmäßige Nachweispflicht: Studierende müssen unaufgefordert Immatrikulationsbescheinigungen vorlegen
- Detaillierte Informationen: Nachweis über abgelegte Prüfungen, Noten und Studienverlauf
- Zeitnahe Information: Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung bei Ausbildungswechsel, -abbruch oder -unterbrechung
Praxisfolge: Der Unterhaltsanspruch kann bei Verletzung dieser Mitwirkungspflichten ruhen oder sogar rückwirkend entfallen.
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.05.2021 (7 UF 13/21):
- Konkretisierung der Nachweispflichten: Vorlage von Immatrikulationsbescheinigungen und Leistungsnachweisen mindestens einmal pro Semester
- Proaktive Informationspflicht: Das Kind muss von sich aus informieren, nicht erst auf Nachfrage
- Keine überzogenen Anforderungen: Die geforderten Nachweise müssen verhältnismäßig sein
Ausbildungswechsel und Unterhaltspflicht
Eine besonders relevante Frage betrifft den Studienfach- oder Ausbildungswechsel:
BGH-Urteil vom 03.02.2021 (XII ZB 413/19):
Der BGH hat die Kriterien für einen unterhaltsrechtlich unproblematischen Ausbildungswechsel präzisiert:
- Zeitfaktor: Ein Wechsel innerhalb der ersten 2-3 Semester ist grundsätzlich unproblematisch
- Begründung: Je später der Wechsel erfolgt, desto triftiger müssen die Gründe sein
- Gesamtdauer: Die Gesamtdauer der Ausbildung darf sich nicht unverhältnismäßig verlängern
Wichtig: Fehlende Eignung, gesundheitliche Probleme oder unvorhergesehene Hindernisse können auch einen späteren Wechsel rechtfertigen.
OLG Köln, Beschluss vom 12.11.2021 (4 UF 120/21):
- Informationspflicht beim Wechsel: Unverzügliche Information der Eltern über Wechselabsichten
- Dokumentationspflicht: Nachweis der Gründe (z.B. durch Studienberatung, ärztliche Atteste)
- Zumutbare Alternativen: Prüfung, ob ein Wechsel innerhalb des Fachbereichs ausreichen würde
Zumutbare Eigenleistungen während der Ausbildung
Die Rechtsprechung fordert von volljährigen Kindern zunehmend eigene Beiträge zur Finanzierung ihrer Ausbildung:
BGH-Beschluss vom 22.01.2020 (XII ZB 256/19):
- Grundsätzliche Erwerbsobliegenheit: In der vorlesungsfreien Zeit wird eine Erwerbstätigkeit erwartet
- Angemessener Umfang: Ca. 20 Stunden pro Woche in den Semesterferien gelten als zumutbar
- Freibetrag: 450 € monatlich (bei Studierenden) bleiben anrechnungsfrei
Beispiel: Ein Studierender verdient in den Semesterferien 2.000 € mit einem Ferienjob. Bei Verteilung auf 12 Monate ergibt dies ca. 167 € monatlich, die unter dem Freibetrag liegen und daher nicht angerechnet werden.
OLG Hamm, Beschluss vom 09.03.2022 (11 UF 159/21):
- Differenzierung nach Ausbildungsphase: Im Master-Studium werden höhere Eigenleistungen erwartet als im Bachelor
- Berücksichtigung des Studienfachs: Bei besonders anspruchsvollen Studiengängen kann die Erwerbsobliegenheit reduziert sein
- Nachweispflicht: Das Kind muss Bemühungen um Nebenjobs oder Stipendien nachweisen können
Angemessene Ausbildungsdauer und Unterhaltspflicht
Ein weiterer Streitpunkt ist häufig die Dauer der Unterhaltspflicht:
BGH-Beschluss vom 16.12.2021 (XII ZB 149/20):
- Regelstudienzeit plus 2-3 Semester: Als Richtwert für die angemessene Studiendauer
- Verlängerungsgründe: Krankheit, Gremientätigkeit, Auslandssemester können Verlängerungen rechtfertigen
- Dokumentationspflicht: Gründe für Verzögerungen müssen zeitnah mitgeteilt und belegt werden
Praxishinweis: Die Regelstudienzeit selbst ist selten realistisch - ein Puffer von 10-20% wird in der Rechtsprechung regelmäßig zugestanden.
OLG Frankfurt, Beschluss vom 27.08.2021 (4 UF 90/21):
- Praktika: Pflichtpraktika sind Teil der Ausbildung, freiwillige Praktika nur bei klarem Bezug zum Studium
- Auslandssemester: Werden grundsätzlich anerkannt, verlängern aber die Gesamtdauer oft nur unwesentlich
- COVID-19-Auswirkungen: Pandemiebedingte Studienverzögerungen werden als unverschuldet anerkannt
Besonderheiten bei volljährigen Kindern in der Schule
Für volljährige Schüler gelten teilweise andere Regelungen:
BGH-Beschluss vom 19.01.2022 (XII ZB 183/21):
- Privilegierter Volljährigenunterhalt: Für unverheiratete Kinder bis 21 Jahre in der Schulausbildung, die im Haushalt eines Elternteils leben
- Gleicher Selbstbehalt wie bei minderjährigen Kindern (1.120 € statt 1.370 €)
- Rangvorteil: Vorrang vor anderen Unterhaltsberechtigten
Praxistipp: Die Privilegierung endet mit dem 21. Geburtstag - auch wenn die Schulausbildung noch andauert!
Praktische Auswirkungen und Handlungsempfehlungen
Für unterhaltsberechtigte volljährige Kinder:
- Dokumentationsroutine einrichten: Erstellen Sie einen Semesterordner mit allen relevanten Nachweisen
- Proaktive Kommunikation: Informieren Sie Ihre Eltern unaufgefordert über:
- Immatrikulation (jedes Semester)
- Prüfungsergebnisse
- Studienverlaufsplanung
- Geplante Praktika oder Auslandssemester
- Eigenleistungen erbringen: Bemühen Sie sich nachweislich um Nebenjobs, BAföG oder Stipendien
- Studienwechsel gut vorbereiten: Sprechen Sie vorher mit einer Studienberatung und dokumentieren Sie dies
Für unterhaltspflichtige Eltern:
- Kommunikationsstruktur vereinbaren: Legen Sie fest, welche Nachweise in welchem Turnus erwartet werden
- Dokumentation führen: Sammeln Sie alle erhaltenen Nachweise systematisch
- Frühzeitig beraten lassen: Bei Anzeichen für Studienverzögerungen oder -wechsel rechtzeitig rechtlichen Rat einholen
- Kompromissbereitschaft zeigen: Nicht jede Verzögerung rechtfertigt die Einstellung des Unterhalts
Höhe des Unterhalts für volljährige Kinder
Die Höhe des Unterhalts für volljährige Kinder richtet sich nach der Düsseldorfer Tabelle:
Aktuelle Bedarfssätze (2024):
- Volljährige Kinder, die im Haushalt der Eltern wohnen: 930 €
- Volljährige Kinder mit eigenem Haushalt: 930 € zzgl. durchschnittlicher Wohnkosten (regional unterschiedlich)
Von diesem Bedarf werden folgende Posten abgezogen:
- Eigenes Einkommen des Kindes (nach Abzug von Freibeträgen)
- Ausbildungsvergütung (vollständig)
- BAföG-Leistungen (vollständig)
- Kindergeld (hälftig bei beiden Eltern barunterhaltspflichtig)
Beispiel: Ein Student (eigene Wohnung) hat einen Bedarf von 930 € + 330 € Wohnkosten = 1.260 €. Er erhält 250 € BAföG und verdient 150 € durch einen Nebenjob (unter dem Freibetrag). Nach Abzug des BAföG verbleibt ein Unterhaltsbedarf von 1.010 €, der anteilig von beiden Eltern nach deren Einkommensverhältnis zu tragen ist.
Fazit: Mehr Eigenverantwortung bei besserer Kommunikation
Die aktuelle Rechtsprechung zeichnet sich durch zwei klare Trends aus:
-
Stärkung der Eigenverantwortung: Von volljährigen Kindern wird zunehmend erwartet, dass sie aktiv zur Finanzierung ihrer Ausbildung beitragen und ihre Ausbildung zielstrebig verfolgen.
-
Klare Kommunikationspflichten: Der BGH fordert eine transparente und proaktive Informationspolitik des Unterhaltsberechtigten gegenüber den Eltern.
Für beide Seiten gilt: Eine offene Kommunikation und klare Vereinbarungen können viele Konflikte vermeiden. Im Zweifelsfall ist eine frühzeitige rechtliche Beratung sinnvoll, um kostspielige Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden.
Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber in Zukunft die Rechtsprechung in einer umfassenden Reform des Unterhaltsrechts für volljährige Kinder aufgreifen wird, wie sie in Fachkreisen bereits diskutiert wird.
Nutzen Sie unseren Unterhaltsrechner für volljährige Kinder, um die Auswirkungen der aktuellen Rechtsprechung auf Ihre individuelle Situation zu berechnen.
Hinweis: Dieser Artikel stellt keine Rechtsberatung dar und ersetzt nicht die individuelle Beratung durch einen Fachanwalt für Familienrecht.