8 Min. Lesezeit
Bereinigtes Nettoeinkommen: Berechnung im Unterhaltsrecht

Bereinigtes Nettoeinkommen im Unterhaltsrecht

Das bereinigte Nettoeinkommen ist die zentrale Berechnungsgrundlage im deutschen Unterhaltsrecht. Es bildet die Basis für die Ermittlung von Unterhaltspflichten und bestimmt maßgeblich die Höhe der zu leistenden Unterhaltszahlungen. In diesem Artikel erklären wir detailliert, wie das bereinigte Nettoeinkommen korrekt ermittelt wird, welche rechtlichen Grundlagen zu beachten sind und welche Fallstricke in der Praxis lauern können.

Was ist das bereinigte Nettoeinkommen?

Das bereinigte Nettoeinkommen bezeichnet im Unterhaltsrecht das Einkommen, das nach Abzug bestimmter berücksichtigungsfähiger Positionen vom Nettoeinkommen verbleibt und tatsächlich für Unterhaltszahlungen zur Verfügung steht. Es ist die maßgebliche Größe für:

  • Die Anwendung der Düsseldorfer Tabelle beim Kindesunterhalt
  • Die Berechnung des Ehegattenunterhalts
  • Die Ermittlung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen
  • Die Bestimmung der Höhe des Unterhaltsbedarfs

Rechtliche Grundlagen

Die Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, sondern hat sich in der Rechtspraxis und Rechtsprechung entwickelt. Folgende gesetzliche Bestimmungen bilden die Grundlage:

  • § 1603 BGB: Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen
  • § 1610 BGB: Maß des Unterhalts
  • § 1578 BGB: Maß des Unterhalts (beim Ehegattenunterhalt)

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in zahlreichen Entscheidungen die Grundsätze zur Einkommensbereinigung präzisiert und weiterentwickelt, insbesondere in den Entscheidungen:

  • BGH XII ZR 67/01 vom 15.10.2003
  • BGH XII ZR 84/06 vom 06.02.2008
  • BGH XII ZR 158/11 vom 26.09.2012
  • BGH XII ZR 45/18 vom 24.07.2019

Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens

Die Berechnung erfolgt in mehreren Schritten:

1. Ermittlung des Bruttoeinkommens

Zunächst werden alle Einkommensquellen erfasst:

Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit

  • Gehalt/Lohn
  • Weihnachts- und Urlaubsgeld
  • Boni und Prämien
  • Überstundenvergütungen
  • Zuschläge und Zulagen
  • Tantiemen
  • Provisionen

Einkünfte aus selbständiger Arbeit und Gewerbebetrieb

  • Betriebsgewinn nach Steuerbescheid
  • Durchschnittliche monatliche Einnahmen abzüglich betrieblicher Ausgaben

Sonstige Einkünfte

  • Miet- und Pachteinnahmen
  • Kapitalerträge
  • Renten und Pensionen
  • Arbeitslosengeld I und II
  • Krankengeld
  • Elterngeld (teilweise)
  • Steuererstattungen

2. Abzug von Steuern und Sozialabgaben

Vom Bruttoeinkommen werden abgezogen:

  • Lohn- bzw. Einkommensteuer
  • Solidaritätszuschlag
  • ggf. Kirchensteuer
  • Krankenversicherungsbeiträge
  • Pflegeversicherungsbeiträge
  • Rentenversicherungsbeiträge
  • Arbeitslosenversicherungsbeiträge

3. Bereinigung des Nettoeinkommens

Vom Nettoeinkommen werden weitere Positionen abgezogen:

Berufsbedingte Aufwendungen

  • Pauschbetrag (5-10% des Nettoeinkommens, mindestens 50 €, maximal etwa 300 €)
  • oder höhere nachgewiesene Kosten für:
    • Fahrtkosten zur Arbeit
    • Berufskleidung
    • Arbeitsmittel
    • Fortbildungskosten
    • Verpflegungsmehraufwand
    • Kosten der doppelten Haushaltsführung

Altersvorsorge

  • Kosten für eine angemessene Altersvorsorge (bis zu 5% des Bruttoeinkommens)
  • Bei Selbständigen höhere Vorsorgeaufwendungen (bis zu 20% des Bruttoeinkommens)

Schulden und Verbindlichkeiten

  • Kreditraten für ehebedingte Schulden
  • In bestimmten Fällen auch andere Verbindlichkeiten, wenn sie vorrangig zu bedienen sind

Vorrangige Unterhaltspflichten

  • Unterhalt für minderjährige Kinder aus anderen Beziehungen
  • Unterhalt für den Ehegatten aus einer früheren Ehe

Besondere Einkommensarten und ihre Berücksichtigung

Selbständige Tätigkeit

Bei Selbständigen gestaltet sich die Ermittlung des bereinigten Nettoeinkommens oft schwieriger:

  1. Betrachtungszeitraum: In der Regel werden die Einkünfte der letzten 2-3 Jahre herangezogen und ein Durchschnittswert gebildet.

  2. Betriebsausgaben: Nur tatsächliche betriebsnotwendige Ausgaben werden anerkannt.

  3. Privatentnahmen: Diese geben Hinweise auf das tatsächlich verfügbare Einkommen.

  4. Investitionen und Abschreibungen: Diese sind differenziert zu betrachten und nicht immer vollständig abzugsfähig.

  5. Steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten: Diese werden unterhaltsrechtlich oft korrigiert.

Vermietung und Verpachtung

Bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung sind zu berücksichtigen:

  1. Werbungskosten: Abzugsfähig sind notwendige Kosten wie Instandhaltung, Verwaltung, Grundsteuer etc.

  2. Tilgungsleistungen: Diese sind grundsätzlich nicht abzugsfähig, da sie Vermögensbildung darstellen.

  3. Abschreibungen: Diese werden in der Regel nicht anerkannt, da sie keinen tatsächlichen Aufwand darstellen.

Kapitalvermögen

Bei Einkünften aus Kapitalvermögen gilt:

  1. Umfassende Einkommensberücksichtigung: Auch Erträge aus Anlagen, die der Altersvorsorge dienen, werden grundsätzlich einbezogen.

  2. Berücksichtigung von Steuern: Die Abgeltungssteuer ist abzugsfähig.

  3. Vermögensstamm vs. Erträge: Nur die Erträge, nicht der Vermögensstamm selbst, sind als Einkommen zu berücksichtigen.

Fallbeispiele zur Veranschaulichung

Beispiel 1: Angestellter

Ausgangssituation:

  • Arbeitnehmer mit monatlichem Bruttogehalt von 4.200 €
  • Weihnachtsgeld: 2.000 € jährlich
  • Steuerklasse I, keine Kirchensteuer
  • Fahrtkosten zur Arbeit: 180 € monatlich

Berechnung:

  1. Bruttogehalt: 4.200 € + (2.000 € / 12) = 4.367 €
  2. Abzug Steuern und Sozialabgaben: ca. 1.400 €
  3. Nettoeinkommen: ca. 2.967 €
  4. Abzug Fahrtkosten: 180 €
  5. Bereinigtes Nettoeinkommen: 2.787 €

Beispiel 2: Selbständiger

Ausgangssituation:

  • Selbständiger mit durchschnittlichem Jahresgewinn von 72.000 € (nach Steuerbescheid)
  • Private Krankenversicherung: 500 € monatlich
  • Vorsorgeaufwendungen: 700 € monatlich

Berechnung:

  1. Monatlicher Gewinn: 72.000 € / 12 = 6.000 €
  2. Abzug Krankenversicherung: 500 €
  3. Abzug Altersvorsorge: 700 €
  4. Bereinigtes Nettoeinkommen: 4.800 €

Beispiel 3: Kombinierte Einkommensarten

Ausgangssituation:

  • Angestellter mit Nettoeinkommen von 3.200 €
  • Vermietete Eigentumswohnung: Mieteinnahmen 800 €, Werbungskosten 300 €, Kreditrate 600 € (davon 350 € Tilgung)

Berechnung:

  1. Nettoeinkommen aus Anstellung: 3.200 €
  2. Einkünfte aus Vermietung: 800 € - 300 € - 250 € (nur Zinsen) = 250 €
  3. Bereinigtes Nettoeinkommen: 3.450 €

Häufige Streitpunkte bei der Einkommensbereinigung

Überstunden und Mehrarbeit

Die Behandlung von Überstunden ist oft umstritten:

  • Regelmäßige Überstunden: Werden in der Regel vollständig einbezogen
  • Gelegentliche Überstunden: Werden meist nur anteilig berücksichtigt
  • Übermäßige Mehrarbeit: Unter Umständen teilweise Berücksichtigung eines Härtefreibetrags

Nach der BGH-Rechtsprechung (BGH XII ZR 103/04) kann bei regelmäßiger erheblicher Mehrarbeit ein Härtefreibetrag von 10-30% gewährt werden.

Firmenwagen und geldwerte Vorteile

Geldwerte Vorteile wie die private Nutzung eines Firmenwagens werden einkommenserhöhend berücksichtigt:

  • Pauschaler Ansatz: 1% des Bruttolistenpreises monatlich
  • Tatsächlicher Vorteil: Alternativ können die eingesparten privaten Kosten angesetzt werden

13. Monatsgehalt und Sonderzahlungen

Einmalige oder unregelmäßige Zahlungen werden in der Regel auf 12 Monate umgelegt:

  • Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld: Werden voll berücksichtigt
  • Unregelmäßige Boni: Werden über einen längeren Zeitraum (2-3 Jahre) gemittelt
  • Abfindungen: Werden meist auf einen angemessenen Zeitraum verteilt

Selbstbehalt vs. bereinigtes Nettoeinkommen

Es ist wichtig, zwischen dem bereinigten Nettoeinkommen und dem Selbstbehalt zu unterscheiden:

  • Das bereinigte Nettoeinkommen dient zur Bestimmung der Unterhaltshöhe
  • Der Selbstbehalt ist der Betrag, der dem Unterhaltspflichtigen mindestens verbleiben muss

Die aktuellen Selbstbehaltsätze (Stand 2025) finden Sie in unserem Artikel Selbstbehaltsätze im Unterhaltsrecht.

Strategien zur Optimierung

Für Unterhaltspflichtige

  1. Vollständige Erfassung aller abzugsfähigen Positionen:

    • Berufsbedingte Aufwendungen detailliert nachweisen
    • Vorsorgeaufwendungen geltend machen
    • Notwendige Kreditraten dokumentieren
  2. Korrekte Einordnung von Einnahmen:

    • Einmalige Zahlungen auf längere Zeiträume verteilen
    • Zwischen Einkommen und Vermögen unterscheiden
    • Zweckgebundene Zuwendungen herausstellen
  3. Nachweis besonderer Belastungen:

    • Gesundheitsbedingte Mehrkosten dokumentieren
    • Notwendige außergewöhnliche Ausgaben belegen

Für Unterhaltsberechtigte

  1. Umfassende Einkommensermittlung:

    • Alle Einkommensquellen identifizieren
    • Vermögenszuordnungen prüfen
    • Nebeneinkünfte berücksichtigen
  2. Kritische Prüfung von Abzugspositionen:

    • Angemessenheit von Versicherungen hinterfragen
    • Notwendigkeit von Krediten prüfen
    • Verhältnismäßigkeit von Wohnkosten bewerten
  3. Berücksichtigung steuerlicher Gestaltungen:

    • Gewinnverlagerungen erkennen
    • Privatentnahmen analysieren
    • Abschreibungspraktiken hinterfragen

Dokumentationsanforderungen

Für eine rechtssichere Einkommensbereinigung ist eine sorgfältige Dokumentation unerlässlich:

Notwendige Unterlagen für Arbeitnehmer

  • Lohn- und Gehaltsabrechnungen der letzten 12 Monate
  • Einkommensteuerbescheide der letzten 1-3 Jahre
  • Nachweis über Sonderzahlungen (Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Boni)
  • Belege für berufsbedingte Aufwendungen
  • Bescheinigungen über Sozialleistungen

Notwendige Unterlagen für Selbständige

  • Einkommensteuerbescheide der letzten 3 Jahre
  • Gewinn- und Verlustrechnungen
  • Betriebswirtschaftliche Auswertungen (BWA)
  • Kontoauszüge der Geschäftskonten
  • Nachweis der Privatentnahmen
  • Belege über berufliche Investitionen

Aktuelle Rechtsprechungsentwicklung

Die Rechtsprechung zur Einkommensbereinigung entwickelt sich ständig weiter. Aktuelle Trends sind:

Präzisierung der berufsbedingten Aufwendungen

Neuere Entscheidungen tendieren zu einer differenzierteren Betrachtung berufsbedingter Aufwendungen:

  • OLG München (4 UF 1457/17): Individuelle Betrachtung statt pauschaler Abzüge
  • OLG Frankfurt (2 UF 135/18): Berücksichtigung tatsächlicher Nachweise

Altersvorsorge bei Selbständigen

Die Gerichte erkennen zunehmend die Notwendigkeit einer adäquaten Altersvorsorge für Selbständige an:

  • BGH XII ZB 347/16: Angemessene Altersvorsorgeaufwendungen auch bei bereits bestehendem Vermögen
  • OLG Hamm (2 UF 213/19): Erhöhte Vorsorgebeträge bei fehlender gesetzlicher Rentenversicherung

Kinderbetreuungskosten

Bei erwerbstätigen Unterhaltsberechtigten werden Kinderbetreuungskosten verstärkt als notwendige berufsbedingte Ausgaben anerkannt:

  • BGH XII ZR 161/04: Kinderbetreuungskosten als notwendige Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit
  • OLG Düsseldorf (7 UF 110/17): Angemessene Betreuungskosten auch in Vollzeit-Konstellationen

Häufige Fragen zur Einkommensbereinigung

Werden Schulden immer vom Einkommen abgezogen?

Nein, nur Schulden, die vor Kenntnis der Unterhaltspflicht entstanden sind oder die zur Sicherung der Lebensgrundlage unabweisbar sind, werden in der Regel berücksichtigt.

Ist ein Kredit für ein Auto abzugsfähig?

Ein Autokredit ist nur dann abzugsfähig, wenn das Fahrzeug aus beruflichen Gründen notwendig ist und der Kredit angemessen ist. Luxusfahrzeuge werden nicht berücksichtigt.

Wie wird Vermögen behandelt?

Vermögen selbst ist grundsätzlich kein Einkommen. Allerdings können Erträge aus Vermögen (Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen) als Einkommen berücksichtigt werden. In bestimmten Fällen kann auch der Einsatz des Vermögensstamms verlangt werden.

Werden private Versicherungen berücksichtigt?

Nur notwendige und angemessene Versicherungen werden als Abzugsposition anerkannt. Dazu zählen:

  • Haftpflichtversicherung
  • Angemessene Krankenversicherung
  • Berufsunfähigkeitsversicherung
  • Grundlegende Sachversicherungen

Kapitalbildende Versicherungen werden in der Regel nicht berücksichtigt.

Fazit und praktische Tipps

Die korrekte Ermittlung des bereinigten Nettoeinkommens ist ein zentraler Faktor im Unterhaltsrecht. Sie erfordert eine sorgfältige Analyse aller Einkommensquellen und abzugsfähigen Positionen sowie die Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung.

Praktische Tipps:

  1. Führen Sie eine detaillierte und vollständige Dokumentation aller Einnahmen und relevanten Ausgaben.
  2. Beachten Sie die Unterschiede zwischen steuerrechtlicher und unterhaltsrechtlicher Behandlung von Einkommen.
  3. Berücksichtigen Sie zeitliche Komponenten und Durchschnittswerte bei schwankenden Einkommen.
  4. Verfolgen Sie die aktuelle Rechtsprechung, da sich die Berechnungsgrundsätze kontinuierlich entwickeln können.
  5. Konsultieren Sie bei komplexen Fällen einen Fachanwalt für Familienrecht.

Weiterführende Informationen

Für spezifische Fragestellungen bieten wir detaillierte Informationen zu:

Hinweis: Alle Angaben ohne Gewähr. Die Informationen auf dieser Seite ersetzen keine individuelle rechtliche Beratung.